DosUlises

 

Literatur


Inhalt

Paul Scheerbart

Dicker roter Mond
Hafentraum
Ein Säufertraum
Ingrimm
Morgentöne
Delirium! Delirium!
Die große Sehnsucht
Noch ein Mal!
Die großen Flammen
Die Welt ist laut
Notturno

Albert Ehrenstein

Piratenlied
Seemanns Lied
Morgengebet

Joachim Ringelnatz

Letzter Ritt

Dr. Karl Döhmann

Bibergeil (Edgar Firn / Daimonides)

Heinrich Heine

Mein süßes Lieb

Uli Bösking

España

Sie wachte auf. Es war dunkel.
Haltestelle Fontana war ich ausgestiegen. (Barcelona)
Sie sind doch sicher schon mal aus Bremen rausgekommen, (Barcelona)
Am späteren Abend bekam ich noch einmal so richtig Appetit. Conil de la Frontera)
In diesem andalusischen Fischerdorf gabs eine Bar, (Conil de la Frontera)
Ein total verrosteter alter russischer Frachter läge im Hafen, (Vigo)
Eigentlich wollte ich einen ruhigen Abend verbringen, (Santander)
Er hatte graues strubbeliges Haar, (Denia)
Dann hatte ich aber doch genug von diesem goldüberladenen … (Santiago de Compostela)
Er hatte wirklich schon viel erlebt. Aufgewachsen in Cuba, (Santander)
Der 11. 11. war definitiv vorbei, (Santander)
Spanien kann sehr kalt sein. (Denia)
Unter der extremen Sonne der Picos de Europa … (Santander)
Er lag still mit offenen Augen. (zu: „Dame“, C.E. de Ory)


Portugal

Mittagshitze. (Vila do Bispo)
Auf der Straße, vor dem Plattenladen, (Lisboa)
Aqui há rato (Coimbra)

Songs

Capri Bar

Especial

Sie wurde schlagartig wach.

Carlos Edmundo de Ory

Carlos Edmundo de Ory (Biographie)
A ti la que me inspira
Dir die mich inspiriert
Dame
Gib mir

Felix Grande

Félix Grande (Biographie)
El precio del olvido
Der Preis des Vergessens
Carta de amor
Liebesbrief
Su escarcha es su mortaja
Ihr Rauhreif ist ihr Leichentuch

Leopoldo María Panero

La canción de amor del traficante de marihuana
Das Liebeslied des Marihuanadealers

Vicent Llorca

Siempre atardece / Jamás entenderé…
Immer dämmert der Abend / Niemals werde ich verstehen…

Verschiedene

Avrix mi galanica (trad. / sephardisch)
Le Grisbi (Marc Lanjean) / Wenn es Nacht wird in Paris (C. Valente)
El Hakim (Max Schmalz)


Dicker roter Mond

Ach, ich kann ja gar nicht schlafen!
Über dem dunkelgrünen Myrtentor
Thront ein dicker roter Mond.—
Ob es später wohl noch lohnt,
Wenn man auf dem Monde wohnt?
Über dem dunkelgrünen Myrtentor?
Wär's nicht möglich, daß uns drüben
“Längre” Seligkeiten küßten?
Wenn wir das genauer wüßten!
Hier ist alles zu schnell aus.
Jeder lebt in Saus und Braus.
Wem das schließlich nicht gefällt,
Hält die ganze große Welt
Auch bloß für ein Narrenhaus!
Ach, ich kann ja gar nicht schlafen!
Alter Mond, ich lach dich aus!
Doch du machst dir nichts daraus!

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Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)


Hafentraum

Ich hab in dieser ganzen Nacht
Still wie ein Stall geschlafen.
Ich hab in dieser ganzen Nacht
Geträumt von tausend Schafen.

Sie waren alle dick und rund,
Ich aber war nicht ganz gesund,
Ich kam allmählich auf den Hund;
Es war in einem Hafen.

In diesem Hafen trank ich viel
Mit großen Welt—Matrosen,
Die spielten Handharmonika
Und mit den tausend Schafen.

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Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)


Ein Säufertraum

Ich war im Traume betrunken
Und sah ein altes Kamel,
Das war zu Boden gesunken —
Es lachte — bei meiner Seel!

Und bald lag mein ganzes Genie
Neben dem lachenden Vieh.
Der Himmel lachte über mir,
Und ich trank immer noch für Vier.

Mein Kamel kam nicht zu kurz dabei;
Ich ließ es trinken fast für Drei.
Dies war meine schönste Zecherei;
Ich fühlte mich so groß und frei.

Ich trinke — bei meiner ewigen Seele! —
Nur noch mit einem alten Kamele.
Mit Menschen trinken ist der größte Kohl —
Kamele nur verstehn den Alkohol.

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Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)


Ingrimm

Eine wilde Fratze
Muß ich schneiden,
Denn dies Leben
Macht mir keinen Spaß.
Oh, ich möchte nur
Ein altes Rabenaas
Mit verrückter Wollust
In zehntausend Stücke reißen,
Und dann möcht ich
Hübsche Mädchenköpfe
Balsamieren mit verfaultem Tran
Oder andrer ekler Flüssigkeit.
Und dann möcht ich
In den Himmel springen
Und die Sterne fressen
Und zuletzt:
Den ganzen Lebensunsinn
ohne weiteres vergessen
Und als Ätherwolke
Traumlos weiterschweben.
Dieses, glaub ich, wird mir
Noch einmal gelingen.

Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Morgentöne

Guten Morgen! schreit das Menschentier;
Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier.

Guten Morgen! schreit auch der Tyrann;
Früh fängt Er zu regieren an.

An den Weltrand will ich heute gahn;
Dort will ich einmal Fliegen fahn.

Guten Morgen! schreit der Kriegersmann;
Ach, der ist immerzu im Tran.

Guten Morgen schreit man dort und hier;
Und meine Uhr schlägt schon halb vier.

Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier;
Guten Morgen! schreit das Menschentier.


Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Delirium! Delirium!
Ein Décadencebild

Alte Knaben sitzen auf den leersten Tonnen,
Und die Nächte siegen über alle Sonnen.
Hinten nagen unsichtbare weiße Mäuse
An dem bös zerbeulten großen Hirngehäuse.
Hör doch, wie die ganze Schädelhöhle quarrt!
Ist die alte Rinde “wirklich” noch so hart?
Alles geht zu Ende— auch der dickste Kopf!
Ach, die weißen Mäuse haben dich am Schopf!
Glaubst du, Läuse sitzen bloß in deinem Puder?
Nein, du bist ein unverschämtes dummes Luder,
Und die Frechheit kommt in erster Reihe ran.


Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Die große Sehnsucht

Wenn die große Sehnsucht wieder kommt,
Wird mein ganzes Wesen wieder weich.
Und ich möchte weinend niedersinken—
Und dann möcht ich wieder maßlos trinken.

Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Noch ein Mal!

Laß dich noch einmal
im tollsten Rausche
Verzückt umfangen—

Laß dir noch ein Mal
So selig küssen
Auf Hals und Wangen—

Laß mich noch ein Mal,
Ach nur noch ein Mal
Zu dir gelangen—

Hurrah!

Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Die großen Flammen

So nehm ich denn die Finsternis
Und balle sie zusammen
Und werfe sie, so weit ich kann,
Bis in die großen Flammen,
Die ich noch nicht gesehen habe
Und die doch da sind — irgendwo
Lichterloh...

Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Die Welt ist laut...

Die Welt ist laut,
Und ich bin still!
Erloschen sind die Flammen.

Ich kann nicht mehr,
So wie ich will!
Den Rausch muß ich verdammen.

Die Welt ist laut,
Ich möcht so viel!
Doch bring ich's nicht zusammen.

Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Notturno

Ich liege ganz still.
Der Nachtwind rauscht leise vorbei.
Eine große Sehnsucht zieht mich noch tiefer.
Diese Sehnsucht — nach — ich weiß nicht was!
Das macht so traurig.
Ich möchte — ich weiß nicht was!
Ich denke an ferne, ferne Zeiten...

Paul Scheerbart
(1863 - 1915. “Katerpoesie”; 1909)
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Piratenlied
Für Ernst Rowohlt

Schiffsjunge fällt vom Mast ins Wasser.
Das hält die fahrt nicht auf.
Kapitän — der alte Seehund schiffet
Erbarmungslos ins Meer.

Groß ist unser Ruhm auf den Dreiteufelsmeeren,
Aber wir lieben heißer und als den leeren Ruf
Rum.
Wir leben in Brandung und Branntwein.
Und wer ihn nicht halten kann,
Kotzet ins Speigatt oder ins Meer.

Hat der Feind mal mehr Kanonen,
Gibt es heute blaue Bohnen,
Morgen wirft uns die Welle
Von Bord in Bordelle,
Wir segeln im Nebel
In die Tabakwolken der Kneipen.
Wenn unser Messer entern will,
Wird mancher Mann still wie das Meer.

Unser Blut juckt uns an allen Hurenküsten,
Doch unsre Schätze schlafen brav vergraben,
Weil wir zu viel
Filzläuse und Schlafschätze haben
In jedem mordswüsten Eiergroghafen am Meer.

Was sollen uns Gold,
Weiberperlen und Diamanten?
Wir trinken Wein,
Gebrannten und ungebrannten,
Wir spielen, stinken, trinken und versinken,
Wir rauchen, raufen, saufen und versaufen
Eines versoffenen Abends im silbernen Meer.

Will uns dann der Tang—Teufel kielholen
Bei der Nacht im schlaflosen Meer,
Wird seine herzliebste Großmutter
Geteert und gefedert
In seinem verdammt feinen Arschhimmel von Höllensalon.

Wir werden kein Strandratzengrab haben!
Uns näht man im Sturm auf der Stelle in Segel
Und schmeißt uns ins heilige Meer.
Und wenn uns dabei kein verhungerter Hai frißt,
Dann leben wir tot noch im ewigen Meer.

Albert Ehrenstein
(1886 - 1950)
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Seemanns Lied

Es liegt eine Leiche an dem Strand,
Matrosen trugen sie hin.
Wer war die Leiche an dem Strand?
Matrosen trugen sie hin.

Es kam eine Möve an den Strand,
Sie legte das Haupt tot hin.
Wer war die Möve an dem Strand?
Sie legte das Haupt tot hin.

Es kamen zwei Möven an den Strand,
Und nahmen Flaum für ihr Nest.
Es kam ein Matrose an den Strand,
Der gab den Beiden den Rest.

Er briet die Beiden am Feuer sich,
Und nahm dem Toten den Ring.
Er sang ein Seemannslied vor sich,
Und brachte den Kindern den Ring.

Es liegt eine Leiche an dem Strand
Es kam die Flut, sie stieg.
Sie nahm die Leiche von dem Strand,
Es stieg die Flut und stieg.

Was liegt die Leiche an dem Strand?
Sie kam ins Grab.
Sie richten einst auch uns an dem Strand,
Ihr Möven, ein Seemannsgrab!


Albert Ehrenstein
(1886 - 1950)
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Morgengebet

Nun sind schon alle Huren müd.
Noch wach im leeren Freudenhaus
Wischt sich mit dem verschlafnen Glied
Die Ärmste ihre Augen aus.

O Vater, der Du über Wolken stehst,
Dein Menschenvolk sonst hoch übergehst,
Der uns in lumpige Lust verstieß,
Beschütze uns vor Syphilis.

Albert Ehrenstein
1886 - 1950
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Letzter Ritt
Eine Sentimenze

Ein Mädchen ritt
Ihren Schimmel
Zum Schlachter
Im Schritt
Nach dem Städtchen.
Gott regnete
Und segnete
Das traurige Mädchen.

Da vergoß es
Eine Träne
In die Mähne
Des Rosses
Und ritt weiter hin.
Als der Schlachtersknecht,
Etwas angezecht,
Jener Reiterin
Guten Morgen bot,
War sie tot.

Ein Gewitter
Brach vom Himmel.
Und der Schimmel
Schmeckte bitter.

Joachim Ringelnatz
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Bibergeil
(Ausschnitt)

I
Wie liebt ich dich so wild und so korrekt
in jenem Wald der dunklen Pithyusen,
als irr dein Mund auf exaltiertem Busen
mich teils geküßt, teils gierig aufgeschleckt!

Wie wühlte ich in deinen Prachtkorsetten,
darauf Astartens Sinnfiguren glühn,
und wie beglitten unsre Zigaretten
die Probenacht honett und misogyn!

Nichts irdischer Kosmetik kann sich messen
mit deines Schenkels Vermouth-Cantilene.
Dein Hündlein selbst verlangt nichts mehr zu fressen,
seit es das Blut geschmeckt aus deiner Vene.

Ich möchte dich mit Himbeersaft begießen,
vermischt mit seidnem Pfeffer von Cayenne.
Ich möchte dich im Schlummerpunsch genießen
und schlürfen wie die Auster von Marennes.

An dich nur denk ich, wenn in meinem Bette
die kleine Singhalesin hold für mich entbrennt.
Von dir begehr ich eine künstliche Doublette
mit zarter Haut aus dünnem Pergament.

VIII
Wir saßen im Café, im erz-bizarren,
umwallt von salzig zuckender Musik,
bei Cocain-Omelette und Paprika-Zigarren
und lila Palmenwein von Mozambique.

Du saßest da wie phrygische Keramik.
Dein holder Busen zierlich und konvex
verriet von der verhaltenen Dynamik
(oh!) deines Leibes nicht den kleinsten Klex.

Du glotztest mir berückend in die Augen,
dummschlau verblendet und voll Dämonie;
und Chrysoprase blitzten, mich zu saugen
bestrebt, voll zweifelsfreier Sympathie.

Wir seufzten herbstlich, ratlos, doch entschlossen. —
Dein Lächeln schien jetzt wie kopiert nach Rops. —
Wir sehnten uns nach starken Feuerrossen
und sausten heim daktylischen Galopps.

II/2
Wir treten sehr diskret durch deine Zimmertüre;
dich kleidet zur Genüge schon dein linker Strumpf.
Der Küsse süß-pneumatische Geschwüre
verteilst du sorglich mir auf Bein und Rumpf.

VII/4
Du wurdest mild, charmant, betörend, lauernd,
umwandest mich mit kühlendem Flanell.
Ich küßte dich vampyrophob erschauernd
auf deiner Wangen skeptisches Pastell.

III/2
Du lehrtest mich geheime Technizismen,
die Trommel und das große Alphabet,
als deiner Locken kühngeschwungne Prismen
in deinem Trance verschwanden vom Tapet.

Edgar Firn / Daimonides
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Mein süßes Lieb


Mein süßes Lieb, wenn du im Grab,
Im dunkeln Grab wirst liegen,
Dann will ich steigen zu dir hinab,
Und will mich an dich schmiegen.

Ich küsse, umschlinge und presse dich wild,
Du Stille, du Kalte, du Bleiche!
Ich jauchze, ich zittre, ich weine mild,
Ich werde selber zur Leiche.

Die Totenstehn auf, die Mitternacht ruft,
Sie tanzen im luftigen Schwarme;
Wir beide bleiben in der Gruft,
Ich liege in deinem Arme.

Die Toten stehn auf, der Tag des Gerichts
Ruft sie zu Qual und vergnügen;
Wir beide bekümmern uns um nichts
Und bleiben umschlungen liegen.

Heinrich Heine
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Sie wachte auf. Es war dunkel. Sie hatte die Decke weggewühlt, Schweiß bedeckte ihren nackten Körper. Es war heiß und stickig im Zimmer. Langsam richtete sie sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Die Füße taten ihr weh. Ihr war schwindelig. Sie hatte die ganze Nacht getanzt. Die Caipirinhas waren sehr gut gewesen und dieser Typ hatte ihr stundenlang von Cuba erzählt. Die vertrackte Rumba hatte sie verrückt gemacht. Oder waren die Augen des Geigers Schuld daran, daß sie jetzt nicht wußte, wo sie war? Sie erinnerte sich an die Straßen einer spanischen Stadt, an Gerüche, Geräusche und Menschen. Die Band hatte mit ihrer Musik Geschichten erzählt. Oder hatte sie Geschichten gehört? Sie stand auf, schob den Vorhang vor dem geöffneten Fenster beiseite und blickte hinaus. Sie atmete tief und erleichtert. Und enttäuscht. Unten lag die vertraute Straße.

U.Bösking, 1998
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Haltestelle Fontana war ich ausgestiegen. Der Luftzug der abfahrenden U- Bahn spie mich hinaus in die Sonne. Gracia hieß das Viertel. Göttin Venus begleitete mich stadteinwärts.
Mir entfuhr ein Ave Maria und ich meinte, Pinien zu riechen, als ich den kleinen versteckten Platz hinter der Kirche entdeckte. Ich setzte mich an einen der kleinen Tische vor die unscheinbare Bar. Cervantes persönlich, in Gestalt des Wirtes, bot mir Wein an. Lleona, die Kellnerin, setzte sich zu mir und erzählte von ihrer Freundin Veronica, die drei Betten hatte. Ich träumte von der Dreieinigkeit.
St. Pere schien hungrig zu sein. Ich stand vor seinem schattigen Schlund. Seine Zähne rochen faulig. St. Pere lauerte, ich merkte, daß er mich beobachtete. Dann verschlang er mich.
Ich träumte von einem kühlen Hospital, von Blumen und Carme. Die Stimme eines alten Sängers drang aus der Casa Beethoven zu mir. Er sang von Jerusalem.
Sta.Maria hatte Mitleid mit mir. Die Prinzessin nahm meine Hand und führte mich zu Rodrigo, einem dieser verrückten Hutmacher. “Wach auf”, sagte sie, “es ist Zeit für dich zu gehen!”


U.Bösking, 1998
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Sie sind doch sicher schon mal aus Bremen rausgekommen, haben sich als Großstadtmensch gefühlt, durchgerüttelt in einer Ubahn.
Aber haben Sie jemals den Atem dieses unterirdischen Tracheensystems gespürt? Diesen Geruch— ein Gefühl von Bestimmung— etwas Abweisendes— einen Sog zu Orten aus dem letzten Traum?
In einer katalanischen Großstadt hats mich mal sehr in den Fängen gehabt und dann irgendwann ausgespuckt. Fontana hieß die Haltestelle. Brunnen. Springbrunnen. Wenn Sie jetzt an Brunnenstraße oder Marcusbrunnen denken, —träumen Sie weiter, es wird Ihre eigene Reise.
Falls Sie aber im Brunnen steckenbleiben sollten: denken Sie an Sonne, Grazie, die Liebesgöttin, Pinien, ein frommes Gebet, Don Quijote, eine Löwin, drei Betten, Veronica und die Dreieinigkeit, den heiligen Petrus, hospitalistische Lieder von Ludwig van, die Jungfrau Maria in Jerusalem, eine Prinzessin in einer verkommenen Alkoholikerherberge und an verrückte Hutmacher.

U.Bösking, 1998
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Am späteren Abend bekam ich noch einmal so richtig Appetit. Appetit auf ein besonderes Gericht, das ich einmal in einer andalusischen Großstadt gegessen habe, die übrigens sehr Bremen ähnelt, der Fluß, die Brücken, die Lage der Altstadt mit ihren Türmen, der Teerhof, hier La Cartuja genannt, und die Neustadt, Triana. Das Gericht heißt “Cazón en Adobo” und ist Hundshai, eingelegt in eine raffinierte säuerliche Beize und frittiert. Ich brauchte einige Zeit, bis ich ein nettes Lokal fand. Es war laut und überfüllt, und die Kellner sahen aus wie schmierige Eintänzer, wie sie sich so zwischen den Tischen hindurchwanden. Chachacha.

U.Bösking, 1998
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In diesem andalusischen Fischerdorf gabs eine Bar, da saßen nur alte Männer rum. Die Gesichter hutzelige salz-, wein- und windgegerbte Olivenkerne. Die Bude war ziemlich voll- und verkommen. Und, Sie kennen das vielleicht, sehr pittoresk. Ja, geradezu inspirierend. Es gab getrockneten Thun unter, Gambas in Olivenöl bereitet und Minitintenfische. Ganz. Mit Eingeweiden. Lebendig gesotten. In der eigenen Tinte. Der Geruch der sich im Sterben befindlichen Tiere, verbunden mit den poetisch nebelnden Rauchschwaden aus Küche und Mündern ließ Gedanken an Piratenkaschemmen, knarrende Konquistadorenrüstungen und bauchtänzerisch- rauschhafte Umarmungen aufkommen. Tango.

U.Bösking, 1998
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Ein total verrosteter alter russischer Frachter läge im Hafen, sagte man mir, als ich die galizischen Arbeiter in dieser Hafenkaschemme fragte, wieso hier in Nordspanien Balkanfolklore mit Akkordeon und zigeunerndem Gesang in einer mir unbekannten, osteuropäisch anmutenden Sprache praktiziert werde. An Horden von Dudelsackspielern und Trommlern hatte ich mich gerade gewöhnt, aber diese Mischung von südländischer Feierabendatmosphäre und Balkantristesse traf mich mitten ins Herz. Den einfachen Männern in dieser Bar schien es nicht anders zu gehen. Sie begannen mit fortschreitender Weinseligkeit in ihrer Sprache improvisierend zu den Akkordeonklängen zu singen. Ich stimmte ein, die letzten portugiesischen Brocken hervorsuchend, was viele Lacher, Schulterklopfen und wiederholte Hinweise, daß ich noch nicht in Portugal sei, zur Folge hatte. In den Morgenstunden wankte ich in Richtung der kleinen Absteige, in der ich in dieser Stadt gewöhnlich nächtige, mich mehr nach dem Sonnenstand und nach Gerüchen orientierend denn nach Straßenschildern, die mein umwölktes Hirn nicht mehr entziffern mochte.

U.Bösking, 1998
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Eigentlich wollte ich einen ruhigen Abend verbringen, nur kurz mal hallo sagen im “Comité” und früh ins Bett gehen. Aber wie das so ist mit solchen Vorsätzen, heraus kommen dabei meist außergewöhnliche lange Nächte. Die beiden Inhaber waren in Spendierlaune und die enge Bar füllte sich mit Freunden und Bekannten, Künstlern und Musikern. Illegale Drogen machten die Runde, deren häufigste Darreichungsform hier in Spanien so putzige Namen hat wie porro, chiri, ketumba, pajita, peta, petardo, trompeta, trócolo, kiki, canuto, cacharro, oder pito. Die letzten drei Ausdrücke sind interessanterweise gleichzeitig Kosenamen für das männliche Geschlechtsteil, auch genannt anchoa, bigotes, butifarra, morcilla, cacho, calvo, cipo, ciri, chuzo, flauta, pepino, rabo, saxo, nabo, polla oder zupo.
Als die Bars des Viertels dichtmachten, zog der harte Kern der Nachtschwärmer in eine Bar im angrenzenden Viertel, wo uns eine aufgedrehte, zu schnellen Latinorhythmen tanzende Meute mit Hallo empfing.
“Im rumbasalon da kommt keiner davon”, dachte ich, das Frühwerk eines bekannten bremer Dichters erinnernd, gab mir einen Ruck und stürzte mich ins Tanzvergnügen.

U.Bösking, 1998
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Er hatte graues strubbeliges Haar, trug einen zerschlissenen grauen Rollkragenpullover und ausgebeulte fleckige Arbeitshosen. Aus den angegrauten Bartstoppeln grinste mich ein unregelmäßiges lückenhaftes Gebiß an. Er roch intensiv nach Whisky und erzählte, immerwieder ins für mich unverständliche Valenzianisch verfallend vom Meer, von griechischen Inseln, Göttern und seiner Arbeit als Schlepperkapitän, von Segeltörns, einer unerfüllten Liebe und der Schönheit der Balearen. Eines war klar: Er war ein waschechter Seemann. Vielleicht ein Pirat. Doch für einen Seemann hatte er eine ungemein poetische Ausdrucksweise. Daraufhin angesprochen fragte er mich, ob ich Lyrik möge, und als ich dies bejahte, meinte er geringschätzig, Poesie sei doch nur was für Weicheier. Es war mein letzter Tag an der Costa Blanca, und ich ertränkte in seiner Gesellschaft meinen Abschiedsschmerz in vielen Gläsern des guten Weines aus der Cooperative von der Armen Jungfrau. Mir fiel seine Abwesenheit erst auf, als er sich wieder zu mir setzte, einige Zeit war wohl vergangen. Er warf mir einen fleckigen eselsohrigen Stapel Fotokopien auf den Schoß. Seine Gedichte. Er sagte grinsend: Mein verstecktes Gold. Hebs gut auf. und übersetz es ins Deutsche, wenn du magst.

U.Bösking, 1998
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Dann hatte ich aber doch genug von diesem goldüberladenen Kirchenprunk und all den Heiligenbildern. Ein komischer Heiliger ging mir allerdings nicht aus dem Kopf. Er paßte irgendwie nicht ins Bild: Einen Totenschädel in der Hand, blickte mich von seinem Sockel herab Hamlet an. Shakespeare in dieser galizischen Kathedrale?
Als ich auf den von monumentalen uralten Gebäuden gesäumten Platz trat, war es bereits dunkel. Jetzt ein Glas eiskalten Ribeirowein, dachte ich, und machte mich in den engen verschlungenen Gassen auf die Suche nach einer netten Bar. Neben einer kleinen Treppe sah ich ein Schild mit einem abwärtsweisenden Pfeil: “pubis pro nobis”. Lateinisch- englisches Wortspiel mit libidinösem Inhalt. Wie passend für einen berühmten katholischen Wallfahrtsort, dachte ich, während ich meine Schritte der Weisung gemäß lenkte. In der Bar wurde ich gleich freundschaftlich mit Handschlag begrüßt und darauf aufmerksam gemacht, daß in dieser Nacht das Motto “Fiesta Mexicana” lautete. Der Wirt war Mexikaner, servierte mir erst einmal ein Stück seiner ultimativen selbstgebackenen Tortilla und stellte dann ob meiner Begeisterung über die gerade laufende Tonkonserve klar, daß Flaco Jimenez gar kein richtiger Mexikaner sei, und seine Musik nur Touristenkitsch. Das Publikum war buntgemischt. An der Theke lernte ich eine junge auf Alte Musik spezialisierte Sängerin kennen, kolumbianische Touristen und ein baskischer Student gesellten sich hinzu. Es wurde getanzt und es gab reichlich exzellenten importierten Tequila.

U.Bösking, 1998
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Er hatte wirklich schon viel erlebt. Aufgewachsen in Cuba, Parteischulung in Moskau, jetzt im cantabrischen Exil. Wir lernten uns, wie könnte es anders sein, im “Comité” kennen. Eine sentimentale Anwandlung, gab er zu, habe seine Schritte in meine Stammkneipe gelenkt. Wir waren schon ganz betrunken von der Suche nach seiner verlorenen Heimat, die wir im Rum zu finden versuchten…

U.Bösking, 1998
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Der 11. 11. war definitiv vorbei, und trotzdem hatte das alles etwas Carnevaleskes. Vielleicht Feria de Abril. Statt der Großfamilienzelte mit ihrer feingesteiften Repräsentationsfröhlichkeit nun Bars in Großcliquenhand, gemeinsam gemietet und geöffnet für standes- oder szeneverwandte Gesichter. Ohs, Ahs, angedeutete Küßchen, Umarmungen und automatisierte Formeln pflichtgemäß beim petardenkrachenden Jahreswechsel, danach alkoholgesteiftes Lächeln und Tanzprotokoll, Langeweile as usual.
Erst als ich auf einem Stapel muffiger Decken, von lauter keltisch- iberischer Musik geweckt, im Fond eines ausgebauten Renault f6 in Begleitung einiger interessanter junger Damen und Herren neuen Zielen entgegenschleuderte, hatte ich wieder das Gefühl eines Zeitkontinuums und überließ mich fröstelnd und neugierig dem Flug, das Jetzt in Augenkontakten zeugend.

U.Bösking, 1998
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Spanien kann sehr kalt sein. Trotz langer Skiunterwäsche und dicker Socken wachte ich in den frühen Morgenstunden dieses Februartags in meinem Schlafsack frierend auf. Die darübergebreitete Wolldecke hatte auch nicht viel geholfen, und die Wärmflasche hatte bereits begonnen zu kühlen. Also aufstehen, bibbernd die Klamotten zusammensuchen und in die Küche, den kleinen Gasofen in Betrieb nehmen. Ich wurde enttäuscht. Das Gas war alle. Die Geschäfte noch geschlossen. Was tun? Wollpullover, Lederjacke und wasserfeste Stiefel an und zum Strand. Es war ein herrlicher Tag. Das Blau des Himmels war fast unheimlich und ich blinzelte mit roter tropfender Nase in die strahlende Sonne. Ich war der einzige Mensch weit und breit. Kräftig ausschreitend, die Hände in den Hosentaschen, summte ich eine Jota vor mich hin, die meine volkstanzbegeisterte Gastgeberin mir vor ein paar Tagen beigebracht hatte.

U.Bösking, 1998
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Unter der extremen Sonne der Picos de Europa war ich meinen Freunden in eine Welt von Felsen, Ziegen und Geiern, neuen Gerüchen und Bodenformen gefolgt. Als ich auf dem Hintern den steilen Geröllhang runterschlitterte, meiner Vorfahren gedenkend, bekam ich am Ende einer schweißtreibenden Wanderung langsam wieder Erdung.
Hungrig wie ein Rudel Wölfe und duftend wie die sie fürchtenden Ziegenhirten fielen wir in den Gasthof des Bergdorfes ein. Zwischen mehreren Portionen eines deftigen Eintopfes, erinnert durch die Wirkung von Cabrales, einem extrem scharfen Kuhziegenschimmelkäse, und Orujo, dem kantabrisch / asturischen Tresterschnaps wurden rauhe, transsylvanisch anmutende Lieder angestimmt. Gesungen im asturischen Dialekt. Für mich klang es Rumänisch.

U.Bösking, 1998
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Er lag still mit offenen Augen. Er atmete tief und tonlos wie seufzend den Duft nach menschlichen Körpern, nach Sonne, nach Schweiß und Sex, der im Raum schwebte. Er fühlte sich erfüllt und doch wünschte er sich etwas von ihr. Etwas unbestimmtes. Kein teures Geschenk. Eher irgendetwas, was sie hatte und von dem sie nicht wußte. Vielleicht einen Stein.

Er blickte neben sich. Sie hatte die Augen geöffnet und blickte ihn stumm an. Du hast Recht, dachte er. Es gibt zuviele unausgesprochene Dinge.

Er spürte eine vage Trauer, einen leichten aber tiefen Schmerz. Er schaute ihr in die Augen und hatte das Gefühl, daß sich etwas langsam und schlank wie ein Messer in seinen Rücken bohrte. Verzweifelt dachte er: Und wenn du nichts hast, was du mir geben könntest— gib mir alles was dir fehlt!

U.Bösking, 1998
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Mittagshitze.
Há mariscos e petiscos
lese ich hinter der Theke.
Ich erkenne die Gerüche wieder,
die Stimmen.
Ich werde erkannt.
Münder begrüßen sich.
Umarmungen.
Schulterklopfen.
Augen forschen.
Gesichter erzählen Geschichten.
Die bekannten, die alltäglichen
haben tiefe Bahnen gegraben.
Und ich sehe und höre neue,
andere als beim letzten Mal,
Verflechtungen.
Zeit ist vergangen.
Ein Straßenköter betritt die Bar.
Der Teller mit den groben Schinkenbrocken,
der Begrüßungsimbiß,
hat die Schwäche in den Knien
aufgefangen; der zweite Becher Rotwein
gibt dem Herzen Gelassenheit.
Der Hund verläßt die Bar
tappt steif
ins lähmende Licht
bis in die Mitte der Gasse
und fällt um.

U.Bösking, 1998
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Auf der Straße, vor dem Plattenladen, werde ich angesprochen:
—Woher kommst Du?
—Ah, Deutschland, toll, Heil Hitler, Ha ha
versucht die junge Frau Kontakt aufzunehmen.
Erschreckt ergreife ich die Flucht,
hinein ins Gewirr der Gassen des Altstadtviertels.
Die Sonne ist untergegangen
die Bars haben aufgemacht
Lichter weisen Steuerbord—
bis Betlehem ist’s weit.
Plötzlich Pfiffe, Gummi schreit auf glattem Pflaster,
Mannschaftswagen, Uniformen, Helme, Stöcke,
Menschen rennen, harsche Worte, unverständlich, Megaphon.
Vorbei.
Seitengasse.
Parkplatz, junge Damen räkeln sich auf Motorhauben—
eine Bar, Tische auf der Straße.
Ich setze mich, bestelle Bica e Bagaço, die Hand zittert beim Umrühren.
Ruhe.
Messer aus Licht tasten langsam um die Ecke des maroden Häuserblocks. Der blutjunge uniformierte Fahrer des Streifenwagens hält. Bleibt sitzen. Der Motor läuft.
Auftritt Sheriff.
Zeitlupe.
Blick links auf die jungen Damen,
Schritt sporenklirrend rechts in die Bar,
—dissonant schrillt die Mundharmonika.
Café und Brandy an der Theke,
Nicken, retour, Katzen und Blech im Auge,
steigt er ein und entschwindet wie ein Nachtmahr.
Ich brauche mehr als eine Stunde,
um meine Absteige in der Rua Sta. Marta wiederzufinden.

U.Bösking, 1998
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Aqui há rato. Warnung oder Anpreisung: mir war’s egal. Nach acht Jahren war ich das erste Mal wieder in dieser Stadt, und die Erinnerungen waren so frisch, als hätte ich sie erst gestern verlassen. Die Bar hatte ich wiedergefunden, zu dieser Tageszeit natürlich geschlossen, aber jetzt Ausgangspunkt für neue Wege. Den ganzen Tag über hatte ich mich treiben lassen, hatte mich bergauf, bergab gequält, bis ich in der Mittagshitze mit rasendem Herzen ein Straßenschild sah: Palacios Confusos. Kurz vor dem Kreislaufzusammenbruch gehe ich auf Treppenstufen in die Hocke. Nichts geht mehr. Ich setze mich auf eine heiße Stufe. Ich bin allein. Klarheit. Konzentration. Ich spreche mit mir. Viele Wörter ohne Ton. Noch mehr Worte. Synthese. Und nichts bleibt. Neue Gedanken sprudeln, purzeln, stolpern. Ich möchte halten. Die Kühle in meinem Hirn bleibt konstant. Neuer Versuch. Angst. Erkennen. Hinschauen. Ich beiße die Zähne zusammen. Zittere. Herzklopfen bestimmt den Rhythmus meiner Gedanken. Fantasien. Es ist dunkel geworden. Ich stehe auf, steige Stufen hinab. Ein Plakat. „Orquesta da Universidade de Estugarda“. Ich fühle mich einsam. Noch ist Zeit, inländische Hochkultur zu betrachten. Die alte Universität liegt über mir. Also hinauf. Das Herz ist ruhiger, schlägt aber immer noch nicht langsamer. Ich habe kalte Hände. Das Konzert ist openair. Ich habe einen guten Platz bekommen in diesem säulenumgrenzten Hof. Jetzt höre ich die Menschen und bin irritiert. Ich meine, Brocken meiner Muttersprache zu hören. Ich blinzele angestrengt. Räuspere mich. Ich bin bei mir. Und die Verstörung bleibt. Ich höre Deutsch. Die jungen Pinguinweibchen und -männchen quasseln aufgeregtes Deutsch. Mein unbewußtes Grinsen mündet in ein Lachen, das mich erschreckt. Klar. Estugarda. Klar. Stuttgart. Ich lache laut. Allein. Empfinde Peinlichkeit. Schaue mich um. Und sehe sie. Fange wieder an zu zittern. Schaue nochmal hin. Sie ist in Begleitung einer etwa gleichalterigen Frau. Sie suchen sich Plätze. Eine Sehnsucht erfaßt mich, so überzeugt von ihrer Unerfüllbarkeit, daß ich an meinen Tod denke. Und doch nehme ich Teil, jetzt hat das Konzert begonnen. Ich höre, doch bin ich Sehen, Überwachen. Und die Erinnerung. Die Küsse auf der Treppe. Ihr Blick, die Farbe ihrer Haut, so anders unter der Sonne als unter der Nacht, die Klarheit der Illusion. Ich wache auf. Sie erhebt sich vor der Pause, ihre Freundin folgt ihr. Sie verlassen den Hof. Ich bleibe, gefangen in selbstgewählter Etikette, umrahmt von, so scheinen sie mir, honorigen Damen und Herren. Die Pause kommt, ich fliehe. Und fange an zu rennen. Der erste Schritt, den ich aus dem Tempel setze, hat ein Ziel. Und es ist der Gedanke an den Geruch ihres Temperaments, der mich nach rechts und nicht nach links irren läßt. Ich suche die Bars auf, die sie mir vielleicht gezeigt hätte, grase die Szene ab. Jetzt spüre ich wieder meinen Körper, die Müdigkeit. Ich fange an zu trinken. Befrage Leute. Beschreibe. Immer wieder glaube ich sie zu sehen. Ich spreche Frauen an, der Irrtum klar schon vor dem ersten Wort. Mein Bemühen in der Fremdsprache ernüchtert mich. Ich brauche Luft. Wieder Treppen. An einer Wand ein schablonengesprühtes Grafitto: Vampir und weibliches Opfer in Tangopose. Die Unterschrift: „Engata-me!“, —„Beiß mich!“. Daneben wie ein Logo: „A escola da noite“, —„Die Schule der Nacht“, oder, prosaischer, „Abendschule“. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich gehe nach Hause.

U. Bösking, 2002
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Capri Bar



Our galleon was heading straight for Italy
the sea was rough as it could be
the crew was fed on worms and tar
Capri came near —the cave not far

That night I will not easily forget
I shot an assassin but it was a rat
the alley was narrow the lights were far
but I made my way to Capri Bar

We anchored in the shallow laguna
the crew was craving for some tuna
the customs came they frisked the ship
I gave the mate whisky it sealed his lip

That night I will not easily forget
the drinks were cool the beats were phat
the moon was high and so was I
I rode that tide as time went by

The day was dawning the wind blew cool
I stumbled round a –well I felt like a fool
the birds were loughing my mind did skip
hours later I woke up on the ship

That night I will not easily forget
both fish and flesh –they made me sweat
the cave was low now I've got a scar
a nice reminder of Capri Bar

U.Bösking, 1993; rev. 2000
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Sie wurde schlagartig wach. Ihr Herz raste. Erinnerungsfetzen ließen das Adrenalin durch ihre Adern schießen. Erst langsam beruhigte sie sich. Sie spürte an ihren Rücken geschmiegt die warmen Formen ihres Freundes, seinen regelmäßigen Atem. Sie hatte es satt, von der Uni zu träumen. Ein bißchen gab sie sich auch selbst die Schuld. Vielleicht war sie zu eitel gewesen. Sie hatte noch einen letzen Schein gebraucht und sich die Veranstaltung von diesem Komponisten herausgesucht. Seriell- mathematische Kompositionssysteme. Das System, das sie in ihrem Referat vorgestellt hatte, war ihr Lebenswerk, ihr Kind. Sie war sehr stolz darauf. Sie stöpselte den dicken Edding wieder zu. Auf seiner Stirn, gleich unterhalb des klaffenden Spalts in seinem Schädel, hatte sie ein großes und ein kleines B für „B-Dur“ oder „Brägen“ hinterlassen, seine Brust zierte ein großes, leider durch den starken Blutaustritt etwas verunstaltetes E (da gabs mal Energie, E-Dur), oberhalb der Schamhaargrenze prangte ein großes C, um das sie als Anspielung einen Kreis gezogen hatte, mit einem hinzugefügten kleinen M (©m) und auf seinem Steiß war, eine Fleischmarke (F#m), das Symbol für Fis- Moll zu sehen. Sie war mit sich zufrieden. Die Investition in ein 150- Mark teures Zwillings- Filettiermesser hatte sich gelohnt. Sie zog sich die Gummihandschuhe aus. Dieses Arschloch hatte es nicht anders verdient. Er hatte die Frechheit besessen, ihr ins Gesicht zu sagen, daß studentische Arbeitsergebnisse als Leistungsnachweise selbstverständlich das geistige Eigentum des Lehrenden seien, als sie ihn wegen seines Artikels in der Fachzeitschrift zur Rede stellte, in dem er ihre Arbeit als die seine ausgab. Das war zuviel für sie gewesen. Eine Mutter nimmt gräßlich Rache, wenn ihr das Kind genommen wird. Sah jetzt richtig scheiße aus, der Typ. Herz, Hirn und Eier steckten in seinem Arsch. In ihrem Rücken regte sich ihr Freund im Traum. Sie schnupperte, roch an ihren Fingern: Gummi.

U.Bösking, 2001
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CARLOS EDMUNDO DE ORY (geb. 1923)

Geboren in Cádiz. 1936 Eintritt in die Seefahrtsschule, die er aber bei Ausbruch des Bürgerkrieges verläßt. 1942 Umzug nach Madrid, wo er als Bibliothekar arbeitet. Zusammen mit dem Maler Eduardo Chicharro und mit Silvano Sernesi 1945 Gründung der Bewegung des “Postismo”, des “Ismus”, der nach allen anderen “Ismen” folgt. Geht 1951 nach Paris, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Spanischlehrer an Mittelschulen verdient. 1967 Anstellung als Bibliothekar der Maison de la Culture in Amiens; Gründung und Leitung des “Atelier de la Poésie Ouverte”. Seit 1972 Spanischlektor an der Universität der Picardie in Amiens. — Ory, der ewig Andersgläubige, erforscht unermüdlich die Möglichkeiten der dichterischen Sprache. Seine eigenwillige Dichtung wird heute, nach einer langen Yeit der totalen Verkennung, von der Kritik gebührend gewürdigt.

(aus: Reclam- Anthologie, 1985)
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A ti la que me inspira obedezco y deseo
A tu invisible huir y tu errante venir
Hacia la honda cuna del ritmo tú me llamas
trayéndome la concha de la profundidad

Son sin fin son sin fin los diluvios caídos
Corazones que a tiempo probaron su fragancia
Aquí están todavía las palabras perdidas
Y yo compongo un verso de saber y perdón

Carlos Edmundo de Ory, Madrid, 1955
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Dir die mich inspiriert gehorche ich und dich ersehne ich
Dein unsichtbares Enteilen und dein unstetes Kommen
Aus der tiefen Wiege des Rhythmus rufst du mich
Bringst du mir die Muschel aus der Tiefe

Endloser Klang endlos ist der gefallene Regen
Herzen die rechtzeitig ihren Duft versuchten
Hier sind noch die gefallenen Worte
Und ich schreibe einen Vers des Wissens und der Verzeihung

U.Bösking, 1994
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Dame algo más que silencio o dulzura
Algo que tengas y no sepas
No quiero regalos exquisitos
Dame una piedra

No te quedes quieto mirándome
como si quisieras decirme
que hay demasiadas cosas mudas
debajo de lo que se dice

Dame algo lento y delgado
como un cuchillo por la espalda
Y si no tienes nada que darme
¡dame todo lo que te falta!

Carlos Edmundo de Ory (*1923), París, 26 febrero 1953
(“Metanoia”, Ed. Cátedra, Madrid, 1990, p.188)
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Gib mir mehr als Stille oder Süße
Etwas das du vielleicht hast und nicht kennst
Ich will keine erlesenen Geschenke
Gib mir einen Stein

Schau mich nicht still an
als wenn du mir sagen wolltest
daß es zuviele stumme Dinge gibt
unter dem was man sagt

Gib mir etwas Langsames und Schlankes
wie ein Messer in den Rücken
Und wenn du nichts hast es mir zu geben
gib mir alles was dir fehlt!

U.Bösking, 1994
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FÉLIX GRANDE (geb. 1937)

Geboren in Mérida (Extremadura). Lebt einige Jahre in der Provinz Ciudad Real u. a. als Kuhhirte und als Büroangestellter. Seit 1957 in Madrid. Nach verschiedenen Beschäftigungen Eintritt in die Redaktion der Zeitschrift Cuadernos Hispanoamericanos, deren zweiter Schriftleiter er zur Zeit ist. Außer den Preisen, die er für seine Kurzgeschichten erhielt, mit den Lyrik- Preisen Adonais (1963), Guipúzcoa (1965), dem Preis Casa de las Américas in Havanna (1967) und dem spanischen Nationalpreis für Literatur (1978) ausgezeichnet. — Wie Grande selbst gesteht, ist für ihn die Dichtung »eine herzliche Form des Erkennens«.

(aus: Reclam- Anthologie, 1985)
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El precio del olvido

Yo que me he demorado en los espejos interrogando si te merecía,
yo que en el laberinto del idioma durante tantas horas he buscado
palabras que nombran tu vestido, tus pechos, tus ojos y tu voz y tu pelo

hoy rehúyo saber cómo es mi cara y eludo los cristales y el río y la caoba
mientras frenético le pido al valor y al lenguaje
los vocablos del frío, la escritura de la maldad, las sílabas del odio.

Félix Grande
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Der Preis des Vergessens

Ich der ich mich in den Spiegeln aufgehalten und mich gefragt habe, ob ich dich verdiente,
ich der ich im Labyrinth der Sprache während etlicher Stunden Wörter gesucht habe
die dein Kleid, deine Brüste, deine Augen und deine Stimme und dein Haar benennen könnten

scheue heute davor zurück zu wissen wie mein Aussehen ist und umgehe das Glas und den Fluß und den Mahagonibaum
während ich tobend vom Mut und von der Sprache
die Wörter der Kälte, die Schrift der Bosheit, die Silben des Hasses fordere.

U.Bösking, 1993
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Carta de amor

Toda ausencia es inexorable

Soy la fiera y el círculo y la jaula
Soy el cadáver y sus perplejos
Soy el desesperado y su ironía
Soy el eclipse de mi rabia
Y soy la rabia de mi desconsuelo

Soy el ahorcado que no tiene soga
Soy el guerrillero sin armas
Y soy el predicador mudo

Soy el odio sin su puñal
Soy el terremoto sujeto
Y soy el cataclismo inútil

Soy este lado de la distancia
En medio la nada y el mundo
El universo y el vacío

Toda ausencia es inexorable

Felix Grande

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Liebesbrief


Jede Abwesenheit ist unerbittlich

Ich bin das Raubtier und der Kreis und der Käfig
ich bin die Leiche und ihre Bestürzung
ich bin der Verzweifelte und seine Ironie
ich bin die Verfinsterung meines Zornes
und ich bin der Zorn meiner Trostlosigkeit

Ich bin der Erhängte, der kein Seil hat
ich bin der Guerillero ohne Waffen
ich bin der stumme Prediger

Ich bin der Haß ohne seinen Dolch
ich bin das unterworfene Erdbeben
und ich bin die unbrauchbare Sintflut

Ich bin diese Seite der Entfernung
inmitten das Nichts und die Welt
das Universum und die Leere

Jede Abwesenheit ist unerbittlich

back U.Bösking, 1993


Su escarcha es su mortaja

Los infalibles y ceremoniosos
con su pubis domesticado
y sus ingles de plomo y frío
y su decoro calamitoso
y sus muchas cosas letales

odian nuestra repulsa a sus contratos,
sus ritos acuosos, su tufo de sordina,
su horrendo tono amarillento espeso,
su parentesco con todo extinto

Si esos cardos de mala envidia
oyeran desde sus lechos tumefactos
la noche digna y boreal que abren
nuestros resuellos genitales

correrían cubiertos de terror
a inventar otra ley estúpida

sudarían sin fin construyendo otro olvido

y arañarían más tarde su enjoyado sarcófago

back Félix Grande



Ihr Rauhreif ist ihr Leichentuch


Die Unfehlbaren und Förmlichen
mit ihrem dressierten Schambein
und ihren bleiernen und kalten Leisten
und ihrem erbärmlichen Anstand
und ihren vielen tödlichen Einfällen

hassen unseren Ekel vor ihren Verträgen,
ihren wäßrigen Riten, ihrem gedämpften Mief,
ihrem abscheulichen Benehmen, fahlgelb schmutzig,
ihrer Verwandtschaft mit allem toten.

Wenn diese Disteln des üblen Neids
aus ihren geschwollenen Betten
die würdevolle Nacht und den Nordwind gehört hätten
die unser geschlechtliches Keuchen öffnen

würden sie Gänge des Schreckens durcheilen
um noch ein dummes Gesetz zu erfinden

sie würden schwitzen ohne Ende ein weiteres Vergessen fertigend

und sie würden später ihren mit Juwelen besetzten Sarg zerkratzen

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U.Bösking, 1993


LA CANCIÓN DE AMOR DEL TRAFICANTE DE MARIHUANA Agujero 84


Y para qué morir si en los barrios adonde
el carmín sustituye a la sangre
nos dan por 125 ptas. algo que según dicen es un sucedáneo de la miel
aunque a veces contiene pestañas ahogadas en ella
que hay que separar cuidadosamente antes de usarla

¡una pata de pajaro por veinte duros! OCASIÓN el hueco
que tanto necesitábamos para meter en él nuestra enorme cabeza
y en el espacio de dos horas no oír más que el ruido que ella misma produce
(algo así como un río de lodo)

qué es lo que esperan, qué es lo que esperan para desenterrar
los pedazos de vidrio de colores que la arena se ha tragado
o los caramelos que al pasar por sus intestinos se convierten en algo nada grato al tacto, al gusto y al olfato
o los perros con que jugábamos en la esquina mientras los autos al pasar nos llenaban de barro

todo en fin, las flechas y verbenas
y todo por tan poco precio, señores, por tan poco precio
un viejo Aarlequín bailará en sus pupilas
una serpiente con muletas anidará en ellas
un viento, quizás, lo reconozco un poco cansado y con ganas de irse a su casa
tratará de limpiarle a Ud. los ceniceros
y todo por tan poco precio, señores, por tan poco precio


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DAS LIEBESLIED DES MARIHUANAHÄNDLERS agujero84



Und wofür sterben, wenn man uns in den Vierteln, wo
der scharlachrote Lippenstift das Blut ersetzt,
für eine Mark fünfzig etwas gibt, von dem man sagt, daß es ein Ersatz für Honig sei
obwohl es manchmal ertränkte Wimpern enthält
die man vor Gebrauch vorsichtig herausnehmen muß

ein Vogelfuß für zehn Groschen! GELEGENHEIT das Loch
das wir so sehr brauchten um dorthinein unseren enormen Kopf zu stecken
und im Zeitraum von zwei Stunden nichts zu hören außer dem Krach, den er selbst produziert
(so etwas wie ein Schlamm wälzender Fluß)

was es ist, das Sie erhoffen, was es ist, das Sie erwarten, um abzuheben
die bunten Glasscherben, die der Sand geschluckt hat
oder die Bonbons, die sich auf dem Weg durch Ihre Eingeweide in etwas dem Tastsinn, dem Geschmacks- und Geruchssinn unangenehmes verwandeln
oder die Hunde, mit denen wir an der Ecke spielten während die Autos uns im Vorbeifahren mit Straßendreck überschütteten

kurzum alles, die Qualen und Feste
und alles so billig, meine Herren, so billig
ein alter Harlekin wird in Ihren Pupillen tanzen
eine Schlange mit Krücken wird in ihnen nisten
ein Wind, ich erkenne ihn wieder, ein bißchen müde und mit dem Wunsch nach Hause zu gehen
wird vielleicht versuchen, Ihnen die Aschenbecher zu säubern
und alles so billig, meine Herren, so billig


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VIII

Siempre atardece.
Aún cuando nunca
lo queramos. Precipicio,
uno, la ola interior.
A veces
además
mala mar
incluso.
Cuando hasta mantener
la derrota es imposible.

¿Qué quiere
el mar? ¿Qué quieres?

VII

Jamás entenderé por qué los hombres
navegan. Jamás me entenderé.

En cuanto a ti, ya ni lo intento.

Vicent Llorca


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VIII

Immer dämmert der Abend.
Auch wenn wir es nie
wahrhaben wollen. Ein Abgrund
erstens, die innere Woge.
Manchmal
außerdem
schwere See
sogar.
Wenn es schier unmöglich ist
den Kurs zu halten.

Was will
die See? Was willst Du?

VII

Niemals werde ich verstehen, warum die Menschen
zur See fahren. Niemals werde ich mich verstehen.

Was Dich angeht, versuche ich es nicht einmal mehr.

back U.Bösking, 1995/96


Avrix mi galanica



-Avrix mi galanica.
Que ya va’manecer.
-Avrir yo no vos avro
Mi lindo amor.
-La noche yo no durmo
Pensando en vos.

-Mi padre ’sta meldando
Mos oyerá.
-Amatalde la luzezica
Si se dormirá,
Amatalde la luzezica
Si s’echerá.

-Mi madre ’sta cuziendo
Mos oyerá.
-Pedrelde la algujica
Si se dormirá
Pedrelde la algujica
Si s’echerá.

-Mi hermano ’sta’scriviendo
Mos oyerá.
-Pedrelde la pendolica
Si se dormirá,
Pedrelde la pendolica
Si s’echerá.

traditionell

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Le Grisbi
du film “TOUCHEZ PAS AU GRISBI”

N'y touchez pas
gardez vos rêves
N'y touchez pas
gare au bonheur
Toi qu'a la fringale
Prends l'or des étoiles
Touch' pas

C'est trop joli
pour être honnête
C'est du soleil
pour les alouettes
C'est clair comm'le sourire
d'un môm'qui dort
Regardez sans rien dire
Des fois, ça mord
N'y touchez pas
gare à la chance
Touchez pas
touchez pas au grisbi
Touchez pas
touchez pas au grisbi

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Marc LANJEAN

Wenn es Nacht wird in Paris

Dreh dich nicht um
nach fremden Schatten
Dreh dich nicht um
und bleib nicht stehn
Laß die fremden Schatten
stumm vorübergehn

Dreh dich nicht um
nach fremden Schritten
Dreh dich nicht um
nach ihrem Klang

Spürst du auch im Geheimen
den dunklen Drang
Folg nicht dem fremden Schicksal
auf seinem Gang

Geh deinen Weg
den man dir wies
Wenn es Nacht wird
wenn es Nacht wird in Paris
Catharina Valente '54 back


El Hakim

Hoofbeats in the evening sun
Cloud of dust far away
Caravan far away
El Hakim you're the messenger
El Hakim I hope for you
Bring me letters from my love
She lives on the stars above

Hoofbeats in the morning sun
Cloud of dust far away
Caravan far away
El Hakim you didn't come
El Hakim I hoped in vain
No letters from my love
Not a word from my love
She lives on the stars above

Max Schmalz 1987

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